
Reisereportage: Mit dem Kanu durch Südfrankreich
Von den Pyrenäen nach Bordeaux auf der Garonne – und warum man das besser nicht machen sollte. Oder gerade doch. Eine Reisereportage von Thomas Bauer.
„Die Garonne? Nicht befahrbar.“ Bastien zuckt mit den Schultern, als ich ihm am Fuße der Pyrenäen 300 Euro in die Hand drücke. Seit Jahren bringt er Touristen im Schlauchboot durch Wildwasser – aber was ich vorhabe, hält er für blanken Wahnsinn. Ein Kanu? Vom Gebirge bis zur Atlantikküste? Unmöglich, sagen viele. Und kaum einer probiert es. Für mich klingt das wie: Mach’s trotzdem.
Mit dabei: Christian, Freund seit Ewigkeiten, Abenteurer seit gestern. „Ganz schön schwer“, meint er, als uns Bastien ein sattgrünes Dreier-Kanu überlässt. Das Ding ist ein schwimmender Panzer – wir nennen es „Arnold“, in Anlehnung an den Terminator aus Hollywood. Wir stopfen unsere Seesäcke rein, stemmen das Monster zum Wasser – und werden sofort von der Strömung verschluckt.
Kaltstart im Wildwasser
Die Garonne ist hier kein gemütlicher Fluss, sondern ein bockiger Wildbach. Sie wirft uns über Steine, schüttet sich ins Boot und macht sofort klar, wer hier das Sagen hat. Arnold hält tapfer durch, scheppert über Felsen und steckt alles weg. Wir dagegen sind klatschnass, überwältigt – und begeistert. Es könnte sogar sein, dass ich mitunter vor Freude jauchze. Nach wenigen Stunden sind wir bei Montréjeau. „Lächerliche Stromschnellen“, sagt Christian plötzlich cool. Vor dem Start war er nervös wie ein Fahrschüler – jetzt redet er von „Hauptströmung“ und „Volldurchzug“. Eine Anpassung im Schleudergang.

Vom Fluss gezähmt – vom Land besiegt
Die Garonne ist über 500 Kilometer lang, weitgehend wild, ungezügelt und wunderschön. Sie schlängelt sich durchs Herz Südfrankreichs, versorgt zwei Millionen Menschen mit Trinkwasser und mündet schließlich – zusammen mit der Dordogne – in die gewaltige Gironde. All das klingt nach Freiheit. Wären da nicht diese verfluchten Wehre.
An jedem dieser Betonmonster müssen wir Arnold schultern – knapp 100 Kilogramm. Dank Yannick, unserem Airbnb-Gastgeber, haben wir ein selbstgebasteltes Kanu-Skateboard im Schlepptau. Das binden wir unter unserem Arnold fest. Trotzdem wird es ein Kraftakt, den wir uns für heute eigentlich gar nicht vorgenommen hatten. Ein Kilometer Flusswandern mit einem Boot, das an Land wirkt wie ein gestrandeter Wal. Schweiß, Flüche,
Dornen; das alles bei 35 Grad im Schatten. Willkommen beim südfranzösischen Kanufitnessprogramm
Nach einer spektakulären Kenterung mitten in einer Staustufe dämmert uns: Arnold ist zu viel für uns. Zu schwer. Zu gierig, was Wasser angeht. Also holen wir uns Ersatz: ein aufblasbares Leichtgewicht. „Arnaud“. Klingt französisch, paddelt sportlich, wiegt beinahe nichts – schlappe 18 Kilogramm. Arnold lassen wir bei Pascale, unserer Retterin samt Schlossgarten. Heute ist unser ehemaliges Kanu vermutlich Star auf Instagram-Hochzeiten in Saint-Martory.
Allein unter Nutrias
In Toulouse verlässt Christian das Projekt, ich paddle weiter – allein mit Arnaud, mitreißenden Strömungen und gelegentlichen Nutrias, die eigentlich aus Südamerika stammen. Menschen? Kaum. Auf 500 Kilometern treffe ich genau drei Angler. Der Rest: Natur pur, ein bisschen Vogelgezwitscher, gelegentlich ein Kormoran, manchmal ein springender Fisch.
Auf dem Fluss fühle ich mich zu Hause. Ich entwickle einen Fluss-Sinn: Sehe den Stein unter Wasser, bevor er da ist. Weiche Hindernissen aus, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Meditatives Dahingleiten, unterbrochen nur von: Brennnesseln, Brombeerranken und französischen Pensionsbesitzern, die außerhalb der Öffnungszeiten von der Bildfläche verschwinden. Service? In Frankreich oft mehr Konzept als Realität.

Kanukönig trifft Schlossherrin
Meine Unterkünfte sind hingegen zum Niederknien. Ehemalige Landsitze mit Pool, Marmortreppen und vergoldeten Türgriffen. Dazu: pensionierte Adelige oder Rentner mit Lust auf Abenteueranekdoten vom deutschen Alleinpaddler. Ich erzähle, sie hören zu – bei allerbestem Essen inklusive edlem Wein. Eine perfekte Symbiose und ein willkommenes
Aufladen meiner Energiereserven.
Tagsüber verlege ich mein Leben ins Boot: Essen, Umziehen, Sonnencreme auftragen – alles im Kanu. Bei 38 Grad lasse ich Luft aus Arnaud, kühle meine Mütze im Fluss und paddle wie im Fiebertraum dem Atlantik entgegen. Endspurt mit Gezeiten-Wirbel
Je näher ich dem Meer komme, desto stärker mischt sich der Atlantik ein. Zweimal täglich wechselt die Garonne mittlerweile die Richtung – ein Gezeitenwahnsinn. Wer zur falschen Uhrzeit unterwegs ist, fährt rückwärts. Ich strande bei Frédérique, einer echten Heldin: Sie fährt mich nach Bordeaux, hilft bei der Routenplanung, schmeißt ein Barbecue und lädt die ganze Nachbarschaft ein. Geschichten wie diese machen die Tour unvergesslich.
Ziel in Sicht – Brücke voraus
Dann: Die letzte Etappe. Die Brücke von Bordeaux erscheint am Horizont – und will einfach nicht näherkommen. Ich paddele wie ein Wahnsinniger. Es ist Ebbe, die mascaret, eine Gezeitenwelle, steht kurz bevor. Wenn ich mich jetzt nicht beeile, schiebt sie mich rückwärts die Garonne zurück.
Also nochmal alles geben: Paddel tief, Zug durch, Fokus wie ein Laser. Brücke eins, Brücke zwei, Zickzack, Schweiß. Und endlich: die Pontonbrücke der Wasserwacht. Ich ziehe mich an Land, zittere, lache – und kann’s nicht fassen.
Zwei Wochen. 500 Kilometer. Von den Pyrenäen bis zum Atlantik. Mit Kanu, Chaos – und Charakter.
Fazit: Die Garonne ist eben doch befahrbar. Man muss nur verrückt genug sein, es zu versuchen.
Alles auf einen Blick
Anreise: von Paris per Nachtzug nach Toulouse, anschließend mit dem Vortortzug TER nach Montréjeau, dann mit dem Bus Richtung Luchon.
Beste Reisezeit: Mai/Juni, wenn die Schneeschmelze vorbei ist und die Garonne vergleichsweise viel Wasser führt, oder September/Oktober, wenn sich die Vegetation verfärbt und spektakuläre Sonnenuntergänge zu erwarten sind.
Zu beachten: Schwierigkeiten bereiten insbesondere die fehlende Infrastruktur, die Abwesenheit von Umtragemöglichkeiten bei Wehren und Staustufen und die Tatsache, dass sich die meisten Unterkünfte und Restaurants nicht in unmittelbarer Nähe der Garonne befinden. Es gibt vergleichsweise wenig Ausstiegsmöglichkeiten und oftmals kilometerweit nur dornenreiches Gestrüpp. An Flachwasserstellen muss man das Kanu tragen.
Warum das Ganze: Man erlebt eine große Verbundenheit mit der Natur mitten in Europa und sieht dem Fluss beim Größerwerden zu. Einsame Momente werden dabei immer wieder unterbrochen von echter Gastfreundschaft, gutem Essen und allen Vorzügen Südfrankreichs. Unterwegs erlebt man die schillernden Metropolen Toulouse und Bordeaux sowie reizvolle Kleinstädte wie Agen und Muret vom Wasser aus.
Weitere Informationen: Abenteurer Thomas Bauer hat 14 Bücher über seinen Touren veröffentlicht. Im September 2025 erscheint „Abenteuer Europa“ im MANA-Verlag, Berlin.
Quelle: Thomas Bauer